FRIEDER HOFMANN I POSITIONEN I PUBLIKATIONEN I PROJEKTE
Aus: "Die Besten in den Osten" - Erinnerungen und Anekdoten 2014
Moskauer Ansichten
Nach unserem damaligen ersten Eindruck war das Moskau der 60-er Jahre eine Großstadt mit eher betulichem Flair, allerdings schon mit ca. 7 Mio Einwohnern (heute 13 Mio). Möglicherweise lag das daran, dass es im Moskauer Stadtzentrum kaum moderne Hochhäuser gab (in Berlin wurde zur gleichen Zeit der Alexanderplatz neu bebaut und der Fernsehturm in Betrieb genommen). Der Moskauer Autoverkehr floss auf breiten Straßen eher spärlich und die Fußgänger, besonders die vielen aus dem Moskauer Umland und den Sowjetrepubliken zugereisten Gäste kamen uns auf eine gemütliche Art altmodisch vor.
Ich war deshalb nicht überrascht, dass mir eine westdeutsche Touristin, obwohl ich die Geschwindigkeit nicht kannte, mit der das Leben im Westen ablief, ihren Eindruck von Stadt und Leuten als entspannt und gelassen beschrieb.
Natürlich lag die Romantik, die ich in dieser Zeit empfand, zweifellos daran, dass ich jung und unvoreingenommen in ein Land kam, das ich bisher nur vom Hörensagen kannte. Ich betrat ein Land, das mich nicht als einen der Schuldigen für die Gräuel empfing, die die Deutschen im letzten Krieg den Russen zugefügt hatten. Solche Vorwürfe gab es, aber sie waren an den Gräueln gemessen eher selten. Die UdSSR erlebte damals eine Periode der relativen Ruhe, der relativen Sicherheit ihrer Bürger und (das muss man eventuell auf die großen Städte beschränken) des relativen Wohlstandes. In Moskau war das in besonderem Maße zu spüren. Das Moskau am Ende der 60er war wie eine junge Frau im Frühsommer, etwas altmodisch, aber leicht gekleidet und behängt mit dem Familienschmuck, dem einige elegant zeitlose Neuanschaffungen hinzugefügt worden waren. Und sie trug ihre Kleider stolz, selbstbewusst und mit dezentem Charme. Ein die 60er Jahre betreffend bemerkenswertes Zeitzeugnis ist der sowjetische Film "Ich spaziere durch Moskau" ("Я шагаю по Москве") von 1963 mit dem gleichnamigen Schlager, in dem diese "Leichtigkeit des Seins" hervorragend wiedergegeben ist.
Allerdings waren meine Vorstellungen von Land und Leuten reichlich propagandistisch eingefärbt, was absolut nicht mit dem Anblick der ersten Betrunkenen auf zentralen Moskauer Straßen zusammenpassen wollte. Doch natürlich war ich bezaubert, denn solche berühmten Sehenswürdigkeiten wie der Rote Platz, der Kreml, die Allunions-Ausstellung (WDNCh) und die Moskauer Metro beeindrucken im Original viel stärker als auf den Bildern im DDR-Fernsehen.
Besondere Auferksamkeit erregte der erst kürzlich fertiggestellte Kalinin-Prospekt (heute „Neuer Arbat“) mit seinen Hochhäusern, Läden und Restaurants, die sich auch international sehen lassen konnten. So erinnere ich mich an eine Tanzgaststätte mit Live-Musik und an die Bierbar „Shiguli“, die als Delikatesse gekochte Garnelen auf der Speisekarte hatte. Das Kino „Oktjabr“ zeigte neben seinem Normalprogramm 3D-Filme, damals eine Sensation, in denen man seltene Naturwunder bestaunen oder sich in Bürgerkriegsszenen mit Maschinengewehren beschießen lassen konnte.
Student in einer fremden Stadt
Unser studentischer Alltag war (von den anfänglichen Sprachschwierigkeiten abgesehen) eher unkompliziert. Wir wohnten in einem neu gebauten Wohnheim am Leninprospekt, einem 16-geschossigen Hochhaus, das gerade bezugsfertig geworden war. Neben den komplett möblierten Wohnräumen gab es, der Tradition der russischen Kommunehäuser folgend, auf jeder Etage eine offene Gemeinschaftsküche, so dass man überall riechen konnte, wenn bei einer Community gerade wieder mal das Essen angebrannt war.
Die Wohnheime anderer Hochschulen hatten dagegen bei weitem nicht diesen Standard. So hausten die Studenten des benachbarten Instituts für Stähle und Legierungen in einem in den 30-er Jahren errichteten Internat, dessen Grundriss dem Stil der Zeit entsprechend an die Umrisse eines Flug-zeugs erinnerte. In den „Flügeln“ befanden sich schlafwagenabteilgroße Wohnzellen, die mit Betten und Einbau-Schränken ausgestattet über nur sehr knapp bemessene Bewegungsflächen verfügten. Der Philosophie der Kommunehäuser folgend waren alle anderen im „Rumpf“ des „Flugzeuges“ untergebrachten Funktionen, wie Waschräume und Toiletten, die Gemeinschaftsküche mit Speisesaal und eine Bibliothek mit Lesesaal gemeinschaftlich zu benutzen, so dass sich nur in den Wohn-zellen ein Mindestmaß an Individualität und Intimität entwickeln konnte.
Die Architektur dieser von kommunistischen Zukunftsvisionen bestimmten Wohn- und Lebensform hat sich später nicht durchgesetzt, hinterließ aber Spuren in der nationalen und internationalen Architekturentwicklung bis hin zu den „Großwohneinheiten“ der 70-er Jahre. In der UdSSR wurde diese Linie im Zuge weiterer Planungen fortgeschrieben, so u.a. beim „Haus des Neuen Wohnens“ von N. Osterman mit 800 Wohnungen, das im Gemeinschaftsbereich sogar über eine eigene Schwimmhalle verfügte. In der DDR konnte man sich mit diesem Trend nicht anfreunden, fand aber 1969 mit den „Treppengiebelhäusern“ von P. Baumbach für das Rostocker Wohngebiet Evershagen eine zumindest "baukörperliche" Entsprechung.
Ein DDR-Student erhielt damals ein Stipendium von 75 Rubeln (ca. 220 DDR-Mark). Davon waren Miete, Essen und Trinken, Fahrtkosten, Arbeitsmaterialien, Bücher, Kino- und Theaterbesuche zu bezahlen. Für 80 Kopeken bekam man in der „Stolowaja“, der Hochschul-Mensa, ein komplettes Mittagessen (Vorsuppe, Hauptmahlzeit, Nachtisch). Brot stand auf dem Tisch und war kostenlos. Gegenüber der Hochschule gab es eine „Piroshkowaja“, in der Teigpiroggen mit Marmelade-, Quark-, Kraut- oder Fleischfüllung verkauft wurden. Die teuerste Pirogge kostete 28 Kopeken. Dazu gab es Tee, Milchkaffee oder Kakao für 3 bzw. 6 Kopeken. Nicht nur wegen ihrer Preise war die „Piroshkowaja“ bei Studenten und Dozenten sehr beliebt. Sie überstand die Jelzin-Ära und rettete sich sogar ins neue Jahrtausend. Das Sortiment blieb unverändert und die Höhe der Preise (ziffernmäßig) ebenfalls. Allerdings standen die Ziffern jetzt nicht mehr für „Kopeken“, sondern für „Rubel“. Mitte 2005, als die „Piroshkowaja“, wahrscheinlich wegen der in die Höhe schießenden Mieten endgültig schließen musste, war das noch lange ein Studentengespräch (Hast Du schon gehört, unsere Piroshkowaja...).
Unsere persönlichen Einkäufe erledigten wir auf dem Heimweg vom Institut – Brot und Brötchen in der „Bulotschnaja“ direkt neben der Metro-Station, weitere „Produkty“ im benachbarten „Dieta“- Magasin oder im „Gastronom“ am Gagarinplatz. Das Angebot war nicht unbedingt weltstädtisch, unsere studentischen Ansprüche waren aber auch nicht sonderlich hoch.
Im „Gastronom“ am Gagarinplatz gab es außerdem noch Sekt und Wein, darunter solche exotischen Sorten wie „VINPROM“-Wermut und „Liebfrauenmilch“. Das „Gastronom“ hatte außerdem einen gesonderten, mit Gittern gesicherten Wodka-Verkauf, vor dem schon vor seiner Öffnung immer eine Schlange stand. Eine Flasche Wodka kostete damals 3 Rubel plus Flaschenpfand, so dass man vor dem Laden manchmal angesprochen wurde, ob man sich an einer „Troika“, d.h. mit einem Rubel am Inhalt einer Flasche beteiligen wolle (die Teilhaberschaft wurde sofort nach dem Kauf auf einem Garagenhof hinter dem „Gastronom“ vollzogen).
Alkoholfreie Getränke gab es auch auf der Straße. Dafür standen fast an jeder Ecke Getränkeautomaten und mobile Verkaufsstände für das russische Brotgetränk Kwas. Diese bestanden aus großen gelben Fässern auf zwei Rädern, vor denen eine weiß gekleidete „Babuschka“ saß, die den Kwas in (echte) Glaskrüge und -becher ausschenkte und sie nach Benutzung ausspülte. Ein kleines Glas (0,25 Liter) kostete 3, ein großes (½ Liter) 6 Kopeken. An den Getränkeautomaten gab es Wasser ohne (3 Kopeken) und mit Fruchtsaft (5 Kopeken). Vorher musste man das Glas im Automaten sauber ausspülen und es dann unter einen Hahn stellen, wo je nach Münzeinwurf das Wasser (mit oder ohne) herauskam. Als ich später einmal geschäftlich in Nischni Novgorod zu tun hatte, stand ein solcher Automat als Attraktion im Vorraum eines Speiserestaurants. Münzen gab es dazu an der Garderobe und unsere russischen Geschäftspartner nutzten die Gelegenheit, die interkulturellen Kompetenzen ihrer deutschen Gäste zu testen. Da ich mich mit den Handgriffen auskannte, um den Automaten zum „Arbeiten“ zu bringen, wurde ich von den russischen Kollegen sofort als „sowjetischer Spezialist“ akzeptiert.
Du musst selber einmal dort gewesen sein*)
Bücher waren billig, z.B. konnte man im „Internationalen Buch“ auf der Gorkistraße (neben dem Stadtsowjet, dem Moskauer Rathaus) die neuesten DDR-Bücher Lexika und Schallplatten erwerben. Und natürlich nutzten wir neben dem Studium alle uns verfügbaren Möglichkeiten zur Erkundung der Moskauer Kulturlandschaft. Die repräsentativen Vorstellungen im „Bolschoi“ waren meist ausverkauft, doch es gab auch noch den neuen Kreml-Kongresspalast, der auf großer Bühne Theater und Ballett in hochkarätiger Qualität und stimmungsvoller Atmosphäre bot (zumal der Kreml damals ohne die heute üblichen Sicherheitskontrollen frei zugänglich war).
Darüber hinaus gab es in Moskau mehrere Schauspieltheater und viele Kinos. So lief u.a. im großen Saal des Kinos „Rossija“ am Puschkin-Platz der Tarkowski-Film „Andrej Rubljow“, der allein deshalb großes Aufsehen erregte, weil seine Uraufführung nicht in Moskau, sondern in Paris stattgefunden hatte. Im Untergeschoss des „Rossija“ gab es ein Trickfilmkino, in dem in Endlos-Schleife die neuen, sehr beliebten Trickfilme „Nu pogodi“ mit Hase und Wolf und die moderne Pop-Adaption der „Bremer Stadtmusikanten“ gezeigt wurden.
In Moskau erlebten wir erstmalig die Aufführung eines „Winnetou“-Films mit Pierre Brice und Lex Barker in russischer Synchronisation. Die russischen Besucher folgten der Handlung mit großer Anteilnahme. Als Winnetou zu seinem Blutsbruder (in freier Transkription aus dem Russischen) sagte: „Hast du dein Pferd dabei? - Auf geht’s!“- konnte sich die deutsche Zuschauerreihe vor Lachen nicht mehr halten, so dass man uns fast aus dem Kino geworfen hätte.
Beeindruckend war für uns Studenten, dass uns unsere Professoren auf bestimmte herausragende Kulturereignisse Moskaus aufmerksam machten. Mehr noch, als die ein für damalige sowjetische (klassische) Verhältnisse völlig neues Ausdrucksballett demonstrierende Truppe der Berliner Komischen Oper um Tom Schilling auftrat, machten uns unsere Professoren nicht nur auf dieses besondere Gastspiel aufmerksam, sondern verteilten auch von ihnen erworbene Eintrittskarten an uns - ihre Studenten.
Während unseres Studiums wurden wir auch mit den Liedern des Dichters und Sängers Wladimir Wyssotzki bekannt. Wyssotzki trat im Taganka-Theater auf, wo er u.a. den „Hamlet“ spielte. Leider waren Karten für die Taganka nicht nur immer ausverkauft, sondern für uns auch unerschwinglich. Aber – seine Songs liefen als Tonband-Mitschnitte (zum Teil in unsäglicher Qualität) bei unseren Mitstudenten, Freunden und Bekannten und wurden von Hobbygitarristen im kleinen Freundeskreis vorgetragen. Jeder wusste um seine Probleme mit der Staatsmacht und seine tragische Liebe zur französischen Sängerin Marina Vlady. Über Wyssotzkis umfangreiches Werk lernten wir nicht nur die Sprache, sondern auch ein Stück Russlands von seiner gesellschaftskritischen Seite her kennen und verstehen. Manche Lieder prägten sich uns so ein, dass einige Verszeilen im eigenen persönlichen Gebrauch zu „geflügelten Worten“ mutierten (Nu sdrasdwui, eto ja.../Sei gegrüßt, das bin ich).
*) Lied von Juri Kukin: "Hinter dem Nebel". Die vollständige Strophe lautet in der Übersetzung von Tino Eisbrenner:
" Понимаешь, es ist einfach zu verstehen. Du musst selber einmal dort gewesen sein. Wie es ruft und in dir brennt, wirst du dann sehen. Dieses Lied der unbegrenzten Weiten holt dich ein."
Dr.-Ing. Architekt Frieder Hofmann
gpfhofmann@parus-le.de
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Aktualisierung: November 2024
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